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Die Bezeichnung „Holzriß“ für ihre späteren Holzschnitte stammt von Margret Bilger. 1938 hat sie (die im darauffolgenden Jahr selber im Innviertel seßhaft wurde) den dort zu Zwickledt grenznah hausenden Alfred Kubin persönlich kennengelernt. Kubin bewunderte bald die Arbeit der Kollegin, die ihn durch Überbringung der jeweils neuen Drucke “auf dem Laufenden” hielt. „Ich sehe mir immer wieder Ihre prachtvollen Holzschnitte an”, schrieb ihr Kubin am 25. 10. 1942, „und da Sie hier Ausdruck mit der eigens hiezu selbst gefundenen Technik organisch, ja elementar verwenden und wunderbare maleriscbe weiche Wirkungen erzielen, sollten Sie für dies Verfahren auch den Namen erfinden. “Margret Bilger hat das auch prompt besorgt: Zwei Wochen später (am 10. 11. 1942) antwortet sie: „Einen Namen dachten Sie, was würden Sie zu Holzrissen sagen?” „Holzrisse ist wie eine glückliche Eingebung”, pflichtete Kubin, von diesem Vorschlag überzeugt, bei: „Sie geben mit Risse einen Wink auf die im Grunde malerische zeichnerische Technik und mit Holz als für das Material! Und Sie selber sind die Dryade, welche sich aus den Wurzeln losgesondert hat in treuer Kraft zu sich selbst!”
Kubin war es auch, der die Bezeichnung „Holzrisse” zum ersten Mal an die Öffentlichkeit brachte. Mit einem Katalogtext stellte er sich vor ihr Werk, als Margret Bilger dann im Frühjahr 1943 bei Günther Franke in München Aquarelle und Drucke ausstellte. Die besondere Technik rechtfertige den besonderen Namen. Und: „Die Blätter unterscheiden sich also wesentlich von dem strengeren, klaren Schwarz Weiß typischer Holzschnitte.” Es war die vergleichsweise „malerische” Wirkung, die Kubin vor allem faszinierte. In der reifen Phase ihres Umgangs mit den druckgraphischen Möglichkeiten bearbeitete Margret Bilger ihre Birnholzplatten nicht mehr auf die allgemein übliche Art mit Stichel, Geißfuß und Hohleisen, sondern ritzte, riß und grub mit Nadeln und scharfgespitztem Werkzeug ihre Darstellungen ins eingeschwärzte Holz. Die Motive, zumeist Figuren und figürliche Szenen (aber auch etliche besonders schöne und für ihre Kunst repräsentative Landschaften), treten in heller Erscheinung aus Dunklem hervor. Die malerische Wirkung (die Kubin so schätzte) wurde durch eine besondere Weise bewirkt, die Abzüge herzustellen (ausschließlich wurden die Drucke von der Künstlerin selber angefertigt). Sie verwendete dafür so gut wie immer hauchdünnes (aber einigermaßen widerstandsfähiges) Japanseidenpapier, ließ die Druckfarbe durch und durch eindringen (daß es zum Beispiel ohne weiteres möglich war, Abzüge auch andersherum, also nicht am direkten seitenverkehrten Abdruck, zu signieren, ohne dabei einen matten, nicht vollschwarzen, Abdruck zu riskieren). Das besonders dünne und weiche Papier machte es möglich, das Druckergebnis weitgehend zu kontrollieren (und zu manipulieren!). Wie bei den „Kuhwelden” von 1935, aber auch später, wurden Teile von verschiedenen Holzstöcken miteinander auf ein Bild abgezogen; die ungleiche („malerische”) Erscheinung des Druckergebnisses aber ist so bewirkt, daß die Künstlerin, wenn es ihr darauf ankam, Teile eines Bildmotivs durch bewußt verschiedenes Einfärben, Aufdrucken und Abreiben hervorhob oder dämmte (und überhaupt eine gewisse Transparenz des gedruckten Bildes bevorzugte). Natürlich war das alles nur bei Abzügen „von Hand”, unter Zuhilfenahme von Falzbein und Tampon möglich. Lediglich ein verschwindend kleiner Anteil des Holzschnittwerkes wurde (mit Zustimmung der Künstlerin) unter Umständen auch als Maschinendrucke vervielfältigt und in den Handel gebracht.
Die auf alle Fälle imposante Eigentümlichkeit der Bilgerschen Holzrisse wurde nicht nur von Kubin bewundert. In den späten vierziger Jahren, also dem Ende in ihrer Auseinandersetzung mit dem Holzriß zu, erreichte die Anerkennung der Graphikerin Bilger einen ersten Höhepunkt. Im Mal 1949 zeigte die Hochburg der Graphischen Künste, die Wiener Albertina, in neun Räumen mehr als zweihundert Holzrisse. Der bekannte Kunsthändler Wolfgang Gurlitt hatte mit der Einundvierzigjährigen einen Vertretungsvertrag abgeschlossen, zur Albertina Ausstellung brachte er ein (ungut lückenhaftes) Werkverzeichnis der druckgraphischen Blätter mit Texten von Otto Mauer und Otto Benesch heraus. „Margret Bilger ist eine große Gestalterin”, schrieb damals der damalige Albertina Direktor Benesch in seinem Beitrag: „wohl die bedeutendste Graphikerin der Gegenwart”. Noch im Jahr der Albertina Ausstellung gab es eine erste Präsentation in den USA (in der Universität von Atlanta und in eher kleinem Rahmen), der 1952 eine nächste in New York folgte. „Mich kennt die Welt!”, meinte Margret Bilger damals zu Hans Fronius (der ihr von Kubin vorgestellt worden war). Aber erst im Juli 1973 ist als neunter Band in der von Kristian Sotriffer in der Wiener Edition Tusch herausgegebenen Reihe „Österreichische Graphiker der Gegenwart” der von Melchior Frommel erarbeitete Werkkatalog der Holzrisse erschienen (also erst zwei Jahre, nachdem Margret Bilger siebenundsechzigjährig in Schärding gestorben war).
Seither hat es immer wieder Bilger-Ausstellungen geben, kleinere, aber auch umfängliche (ja umfassende), zumeist zu irgendwelchen Gedenkanlässen. In den wichtigsten österreichischen Sammlungen ist ihr Werk überdurchschnittlich ausführlich vertreten: durch einen schönen Blätterbestand in der Graphischen Sammlung Albertina, in Linz in der Neuen Galerie (Wolfgang Gurlitt Museum) und im Oberösterreichischen Landesmuseum, in der Neuen Galerie am Landesmuseum Joanneum ihrer Geburtsstadt Graz und neuerdings durch etliche Schenkungen und Zukäufe im Salzburger Rupertinum. Aus dem Nachlaß Otto Mauers ist dessen Besitz an Bilger-Blättern, vor allem Holzrisse, ins Wiener Diözesanmuseum gelangt.
Die „Welt” kennt sie zwar noch immer nicht, doch teilt sie damit das Schicksal der meisten österreichischen Künstler ihrer Generation, die es eigentlich dafürstünden. Alles das herzuzählen, was in dieser Hinsicht versäumt wurde (und versäumt wird), wäre ein Langes und Breites. Aber nicht nur im Fall Margret Bilgers sind Entdeckungen fällig, die hinter der (auch reichlich verspätet erfolgten) von Klimt&Schiele vorläufig zurückstehen (müssen). Unter den Kunsthistorikern war Otto Benesch einer der ersten, der als “Autorität” mit Nachdruck für Margret Bilger (wie übrigens auch für Schiele) eingetreten ist. Ihm verdankt die Wiener Albertina ihre mit vielen besten Blättern bestückte Schiele-Kollektion wie auch den recht beachtlichen Besitz von Bilger-Holzrissen, zu dem es wohl nicht ohne Beneschs Überzeugung gekommen wäre, daß es sich auch dabei um ein ungewöhnliches, über Österreich hinaus bedeutendes Werk von Weltgeltung handle.
In dieser hohen Einschätzung stand Benesch damals ebenso allein, wie er mit der solchen heute einsam dastünde. Man sieht nämlich notorisch eben nur das, was man weiß – und man weiß nur, was man einigermaßen gut kennt (wofür, was Margret Bilger angeht, die Voraussetzungen noch längst nicht ausreichen).
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(…) Margret Bilgers Holzriß Werk kann in seiner Entfaltung und Entwicklung auch als die Geschichte einer (persönlichen wie künstlerischen) Emanzipation gesehen werden, als der inständige Versuch, menschlich wie künstlerisch auf eigenem Wesen zu bestehen. Das begann in den Gepflogenheiten der zwanziger Jahre und aus dem Trachten bestimmter Vorstellungen (z.B. auch der „Wiener Werkstätte”), einer Verbindung von Kunst und Alltag zu entsprechen. Das Kunstgewerbliche war für Margret Bilger keine wirkliche Gefahr (aber eine Gefahr immerhin!). Sie hat es auch (anders als viele um sie herum) vermeiden können, aus einer womöglichen Folklore in ein religiöses Allerweltsdarstellen überzuwechseln (wozu sie gerade als Graphikerin stark motiviert gewesen wäre). Der von Margret Bilger eingeschlagene Weg führt künstlerisch von einem Bilderbuch- Expressionismus zu einer eigenständigen und ganz und gar eigentümlichen Ausdrücklichkeit. Für die wieder zwei Bereiche zu unterscheiden sind: ein allgemeinen Aufgaben überantworteter, „offizieller” (der graphischen wie der Glasfenster Arbeit) und ein anderer mehr privater (der dem Porträtzeichnen und Landschaftern vorbehalten war). Auch in ihrer Druckgraphik (und vielleicht vor allem in ihrer Druckgraphik) trat die Künstlerin als der empfindliche Stimmungsmensch, der sie war, und mit ihren individuellen Anliegen und Ansprüchen mehr als sonst hinter das Kunstwerk zurück. Wohl auch aus der Überzeugung heraus, sich mit ihrer Kunst allgemeiner verständlich machen zu müssen, um von möglichst vielen verstanden zu werden. Aus ähnlich überzeugter Durchdrungenheit wurden (und das eben zu einer Zeit, als Margret Bilger jung gewesen ist) Parolen wie „Kunst ins Volk” ausgegeben (die später ohne weiteres in „Maßnahmen” gegen „entartete” Kunstwerke und ihre Künstler ausufern konnten). Dabei zwischen berechtigtem Wunsch (gebraucht zu werden und brauchbar zu sein) und der argen Konsequenz der Anprangerung und Austilgung ein womögliches „Maß” zu finden, ist, solange er nicht davon betroffen wurde, damals nicht einmal einem Emil Nolde gelungen.
Margret Bilger hat sich im Drang zum „Volkstümlichen” hin nicht den „Völkischen”, sondern der Kirche angeschlossen. Die Kirche als Hort und Hüter zeitgenössischer (zeitgenössisch ambitionierter) Kunst in Betracht zu ziehen, ist aber (die wenigen Ausnahmen bestätigen diese Regel) gleichfalls nicht ganz und gar unproblematisch. Margret Bilger jedenfalls hat es riskiert. Die Kirche, für die sie sich entschieden hat, war für die Österreicherin die „allgemeine”, also katholische, obwohl sie, die durch familiäres Herkommen evangelisch war, trotz ihrer engen Kontakte mit den katholischen Auftraggebern und Beherbergern ihrer Arbeit bis kurz vor ihrem Lebensende evangelisch geblieben ist.
Als Graphikerin begann sie mit Linolschnitten von Weihnachtsmotiven. Religiöses hielt in ihrer Graphik bis zuletzt an und herrschte zu gewissen Zeiten im Werk bei weitem vor. Margret Bilger war ein gläubiger Mensch (wenn auch vielleicht nicht im Sinn der Amtskirche und ihrer Vorschriften). Jedenfalls hat sie das Kirchenjahr und seine Feste bewußter miterlebt (und „begangen”) als manch einer aus ihrer klerikalen Umgebung.
Es sind die christlichen Kardinaltugenden Glaube, Liebe, Hoffnung, die sich in ihrem Werk spiegeln. Vielleicht auch sind ihre späteren und spätesten Holzrisse Bilder, in der Art moderner lkonen aufgefaßt, altehrwürdige Themen zeitgenössisch empfunden und „übersetzt”, diese mit gar nicht ikonenhaftem Schwung entworfenen Lichtgestalten vor verdüsterten, interessant tamponierten Hintergründen. Vielleicht ist es bei ihr auch nur religiöses Heimweh, Sehnsucht nach jenen Inhalten, die sie als Kind beeindruckten und die sie künstlerisch in der „Botschaft” ihrer Bilder mitbeschwor. Die Kirche, der sie sich anschloß, schien ihr vielleicht ein gewisser Garant, um (anstatt Verstörung und Zerrüttung einer schlimmen Zeit zu beklagen) eine gewisse Einheit anzustreben; oder jedenfalls dorthin zu verweisen, wo eine solche Einheit verheißen wird. Mindestens ebenso wie aus der Bibel und anderen religiösen Überlieferungen imaginierte sie aus Märchen und Mythen. Ihr “elbisches” Wesen, von dem Kubin meinte, daß es den “Sprung ins Unendliche” wage, suchte einen Ausstieg aus der Zeit, die sie miterlebte, ins Überzeitliche und also ”Ewige”. Ob und inwieweit Margret Bilger aber wirklich religiös gewesen ist und inwieweit ihre Kunst in Wahrheit religiös war, darüber müßten mit dergleichen Versiertere befinden, die sich aber bisher damit nur sehr im Darüberhinwegblicken befaßt haben. Obwohl das reife graphische Werk Margret Bilgers im oberösterreichischen Abseits entstanden ist, hat es nichts Provinzielles an sich. Daß es bisher über Österreich nicht hinausgedrungen ist, hängt mit Umständen zusammen, die nichts mit einer womöglichen regionalistischen Befangenheit zu schaffen haben. Das allenfalls österreichische Wesen ihrer Kunst stünde ihrer weiterreichenden Anerkennung ebensowenig im Weg, wie österreichisches Wesen die weltweite Anerkennung Gustav Klimts schlußendlich verhindern konnte. Es scheint nicht vermessen, in allgemeiner künstlerischer Hinsicht den Fall Margret Bilgers mit dem Marc Chagalls zu vergleichen. Beide zehrten aus Märchen und Überlieferungen, in beider Werk spielt das Religiöse eine beträchtliche Rolle. Beide haben sich mit dem Volkstümlichen auseinandergesetzt und beide haben neben ihren sonstigen künstlerischen Bestrebungen ein imposantes graphisches Werk hinterlassen.
Wenn man aber Gleiches vergleicht, so ist es darum längst nicht dasselbe. Margret Bilger hat einigermaßen voreilig von sich behauptet, daß sie die Welt “kenne”. Chagall kennt man dort wirklich. Chagall hat in Paris zu einer Zeit gelebt, als dort Weltkunst gemacht wurde. Margret Bilger hat ihr Werk in der oberösterreichischen Provinz geschaffen, wo sie am provinziellsten vorkommt, und ist dafür von einem kleinen Kennerkreis (ohne weiterreichenden Einfluß) gekannt und gerühmt worden. Dennoch mag es angehen, für Margret Bilger auf Grund der Art und des Wesens ihrer Kunst die Rolle eines österreichischen Chagall zu behaupten.
Über die Kunst Margret Bilgers wurde schon manches (und stets Anerkennendes) geäußert. Was auf alle Fälle aussteht, ist der nunmehr unternommene Versuch, das wesentliche künstlerische Schaffen zusammenfassend darzustellen. Was dabei nicht entsprechend zum Tragen kommt (und wohl auch kaum entsprechend zum Tragen gebracht werden kann), ist ihre persönliche Erscheinung. Alle, die sie noch erlebt haben (und also vier von den fünf Autoren dieses Bandes!), berichten vom wahrhaft „Bezaubernden” (also zauberischen) ihres Wesens. Denen, die sie nicht gekannt haben, bleibt der Zauber ihres Werks. Immer mehr wird Margret Bilger diesen anderen zu einer „sagenhaften Figur” (wie ein Gütersloh-Roman tatsächlich heißt) unter den Gestalten und Gestaltern der neueren österreichischen Kunst. Was dabei verlangt werden kann, ist die gewisse Grundlage und Handhabe für eine halbwegs fundierte Befassung mit ihrem Werk, wie es anderswo als in Österreich für einen Fall wie den ihren längst selbstverständlich wäre. Der Vergleich mit Chagall mag hochgegriffen erscheinen, aber immerhin spricht manches dafür: Otto Benesch, der sehr wohl überlegte, wen er lobte (wenn er überhaupt lobte), hat Margret Bilger als „wohl die bedeutendste Graphikerin der Gegenwart” bezeichnet. Auch diese Einschätzung mag hochgestochen erscheinen. Sie läßt sich aber nicht als Urteil von jemand abtun, der etwa nicht gewußt hätte, was er damit behauptete. Margret Bilger wird in den höchsten Kunst Parnaß dieses Jahrhunderts vielleicht nicht hineingelangen. Sie hat dort wahrscheinlich auch nichts verloren, obwohl ihr hinterlassenes Werk durchaus angetan ist, sie wenigstens als eine mehr als nur „interessante” Begleit und Sockelfigur auszuweisen. Sie wäre auch wahrscheinlich kaum ambitioniert gewesen, als ein „österreichischer Chagall” zu figurieren. Es war damals wohl nicht so, daß „die Welt” sie kannte, als sie dies von sich behauptete. Aber wenn es schon nicht wahr war, so ist es (wie so vieles um ihre Person und an ihrem Werk) auf seine gewisse Weise über die Wirklichkeit hinaus, daß man es, so wie es gesagt worden ist, so doch wohl noch wird sagen dürfen.