MARGRET BILGER wurde am 12. August 1904 in Steiermark geboren. Sie erhielt ihre künstlerische Erziehung an der Kunstgewerbeschule in Wien. Das stärkte ihre Anlage zum Schmückenden und zum freien Spielen der Phantasie, zum Nacheifern naiver und primitiver Werke des Mittelalters und der Volkskunst, ihrer Schlichtheit und einfachen Frömmigkeit. Es gibt Glasfenster aus der Frühzeit von Frau Bilgers Schaffen. Auch die frühesten Holzschnitte (Österreichische Heilige, Kleine Wiener Serie 1928) zeigen noch den Hang zum Dekorativen, kunstgewerblich Primitiven. Darin war noch zuviel gewolltes Spiel mit der Form. Die Künstlerin empfand, daß die lapidare Sprache des Schnittmessers einem inneren Zwang, einem überwältigenden Gesicht gehorchen muß. Die Distanz zum naturalistischen Abbild wurde durch die Einfachheit der graphischen Technik gefördert. Diese nötigte zum Sehen in großen Formen, zum Erfassen des Wesentlichen, zum Absehen von allem, was nicht dem Gesetz des inneren Ausdrucks dient. Dabei findet die Künstlerin einen in tieferer Schichte liegenden, direkten und naiven Weg zur Natur. In der Struktur des Holzschnittes spricht der Baum mit, aus dem die Platte geschnitten wurde, ihre Maserung zeigt die Prägung der Wurzeln, die sich in dunkles, mütterliches Erdreich senkten, das Wachsen und Sprießen der vegetabilen Fülle, die hier zur bleibenden Kunstform erstarrt ist. So war es bei den Holzschnitten der Donauschule, bei Albrecht Altdorfer und Wolf Huber, bei den Künstlern von Mondsee und Mariazell. So ist es heute bei den Holzschnitten von Margret Bilger.
Es wäre falsch, ihre Kunst mit jenem volkstümelnden, sentimentalen, provinzlerischen Epigonentum verwechseln zu wollen, das in der österreichischen Literatur und Kunst der Gegenwart leider so überhand genommen hat. Frau Bilgers Kunst ist weltoffen und weltweit. Die mächtigen Holzschnitte von 1933 zeigen, daß sie von den Graphiken Gauguins, ihrer mythischen und religiösen Größe, Kenntnis hatte. Ähnlich wie der Weg Gauguins, der vom Dekorativen zur inneren Schau führte, ging auch der ihre. Doch waren rationale Überlegungen der Gestaltung dieser Mystikerin und Visionärin fremd. Mit den Holzschnitten von 1938 hatte sie ihren Weg gefunden und wandert nun gleichsam mit geschlossenen Augen durch die äußere Welt, um sich und ihrer inneren Welt treu zu bleiben.
Der Inhalt spielt in Frau Bilgers Kunst eine große und neue Rolle. Beim Überblicken der Bildtitel fallen uns drei Inhaltskreise, aus denen sie ihre Gesichte schöpft, auf: der dichterische der mythische und der religiöse. In den dichterischen fallen die zahlreichen Themen aus “Des Knaben Wunderhorn”, den Grimm'schen Märchen, den Dichtungen Stifters, dem Volksliederschatz; in den mythischen die Gestalten der Antike und Fabelwesen; in den religiösen die Darstellungen des Alten und Neuen Bundes sowie der Heiligenlegende. Die Themen sind ohne Bezugnahme auf eine herkömmliche lkonographie aus der inneren Vision heraus völlig neu geschaffen und durchdringen sich in ihrem Stimmungsgehalt wechselseitig. So entsteht die durchaus neuartige, visionäre Gestaltung altbekannter Gegenstände: die dichterische Glut und Beschwingtheit der biblischen Vorgänge, die religiöse Innigkeit und Intensität des Märchens und der Mythologie. Der christliche Ikonograph wird eine Fülle ungewöhnlicher Gedanken und Gestaltungen in Frau Bilgers Werk finden, so kühn und neuartig, daß sie vielleicht in früheren Jahrhunderten als häretisch angesehen worden wären, doch von niemals nachlassender Glut des mystischen Erlebens erfüllt. So hat William Blake in der Ära des neuklassischen Idealismus eine visionare Ikonographie auf biblischen Themen aufgebaut. An Blake denkt man auch bei den traumhaften Pflanzen und Blumenformen, die in Frau Bilgers Landschaftsaquarellen sich entfalten.
Frau Bilger hat die Technik des Holzschnittes ihrem künstlerischen Drange entsprechend entwickelt. Sie schneidet nicht nur mit dem Hohlmesser in den Holzblock, sie ritzt ihn auch mit dem Stichel, wie die kalte Nadel die Oberfläche der Kupferplatte aufreißt. So entstehen ihre “Holzrisse”, in denen die Gestalten wie magisches Lichtgespinst aus dunklen Gründen erwachsen, Materialisationen gleich den hauchzarten Bleistiftlinien ihrer Zeichnungen. Übersinnlich und visionär, dabei von tiefstem Naturgefühl erfüllt sind auch ihre Landschaften, unter denen die ,Sternennacht überm Böhmerwald" die bedeutendste ist.
Riß und Schnitt verwachsen zu dichtem Gewebe, das in ihren reifsten Arbeiten an Webereien des christlichen Ägyptens, an romanische Stickereien aus Nonnenklöstern erinnert. Form und Komposition werden immer einfacher, eindringlicher und machtvoller, in der Stilsprache romanischen Skulpturen verwandt, ohne oberflächlich zu archaisieren. Denn diese Dinge sind aus innerer Notwendigkeit so geworden. Daneben steht die Büste einer “Klugen Jungfrau”, die in ihrer klassischen Größe an Frühgriechisches und Maillol erinnert.
Margret Bilger ist eine große Gestalterin, wohl die bedeutendste Graphikerin der Gegenwart. Ihr Werk, das schon hoch ins dritte Hundert geht, reicht durch Wucht und Überzeugungskraft an das der großen Realistin und Vorkämpferin Käthe Kollwitz heran. Sie ist aber nicht wie jene eine harte Schmiedin des Lebens und seiner Bitterkeit, sondern eine der letzten Mystikerinnen der Geschichte, eine geistesverwandte Nachfahrin von Hildegard von Bingen und Mechthild von Magdeburg, eine Gottsucherin, nicht auf dem Wege der leidenden Masse, sondern der einsamen Erleuchtung.