Ich habe vor einiger Zeit in einer amerikanischen Zeitschrift einen Artikel über Grete Bilger, die berühmte österreichische Malerin, gelesen. Der Artikel war interessant und schön aufgemacht und ging über eine ganze Seite; er wurde in den österreichischen Zeitschriften zitiert und weckte berechtigtes Aufsehen, da man hier zum ersten Mal etwas Positives über das Leben und den Ursprung dieser eigentümlichen Künstlerin erfuhr. Nur einen Einwand kann man gegen den Artikel geltend machen: dass er von Anfang bis Ende freie Erfindung war – alles über das Abenteuerliche in Grete Bilgers Leben und Tun war von der gewieften Journalistin, die ihn – übrigens mit viel Talent – geschrieben hatte, erfunden worden.
In Wien gibt es die seltsamsten Legenden über Grete Bilger, und die Meinungen über sie sind stark geteilt. Es gibt Leute, die meinen, sie sei unheilbar geisteskrank, und andere, sie sei klüger als die meisten. Nur über eins war man sich einig: dass sie eine der größten künstlerischen Begabungen unserer Zeit sei und dass alle Kunstliebhaber zu allen Zeiten ihre naiven, eigentümlichen Arbeiten bewundern werden. In ihren großen Werken für österreichische Kirchen herrscht die gleiche lebhafte Phantasie und verinnerlichte Frömmigkeit wie auf mittelalterlichen Kirchenbildern, die gleiche reine Unschuld und grenzenlose Farbenfreudigkeit wie in den Arbeiten von Kindern, alles vereint mit der sicheren Technik und sicheren Beurteilung der Mittel des reifen Künstlers._Aber über sie selbst weiß man nichts, und als eine Folge davon hat die Legendenbildung freies Spiel. Sie hat sich nie interviewen lassen oder öffentlich zeigen wollen – nicht einmal, als ihre Arbeiten letztes Jahr einen Preis der Stadt Wien erhielten. Durch einen Zufall lernte ich sie kennen und habe durch ihre Persönlichkeit einen stärkeren Eindruck von ihren Arbeiten erhalten, - mehr als durch alles andere.
Als ich sie zum ersten Mal traf, wohnte sie in einem Vorort von Wien – in einem kleinen elenden Zimmer in einer Hütte in Nussdorf – weiter oben an einem Hang mit Weinfeldern und Aussicht über die Donau. Das Zimmer war angefüllt mit billigem Spielzeug, wie man es auf Märkten kauft: Schreipuppen und Springkobolde und alle möglichen Kuchenfiguren. Die Wände waren überfüllt mit Kinderzeichnungen, und wenn sie zu Hause war und arbeitete, hatte sie fast immer Besuch von einer Menge kleiner heruntergekommener Gören aus einem Waisenhaus in der Nähe. Die liebten sie fast so sehr wie sie die Kinder, sie waren überhaupt die einzigen Menschen, mit denen sie ungezwungen umgehen und mit denen sie vertraulich reden konnte. In dem Waisenhaus war die strengste Strafe fürs Unartigsein, dass man „die Gretl“ nicht besuchen durfte.
Sie, deren gigantische Werke so bewundert werden, ist eine kleine sonnengebräunte Frau Mitte dreißig und so zurückhaltend und scheu, dass ein Gespräch zunächst unmöglich war. Sie ging immer barfuß und schlief immer im Freien. Draußen auf dem Weinberg und an den Hängen hatte sie Verstecke, in denen sie nachts schlief – ohne Decken oder Zelt und bei jedem Wetter. In die Stadt kam sie fast nie, und sie hatte vor Autos und Straßenbahnen die fürchterlichste Angst. In Geschäfte geht sie nur, wenn es unumgänglich ist, und ist dann so ängstlich, scheu und verwirrt, dass sie in der Regel für eine Kleptomanin gehalten wird. Nur unter Kindern und Spielzeug ist sie glücklich. Mit Entzücken zeigte sie mir die Schreipuppen und Springkobolde und sprach begeistert von den Kinderzeichnungen, die ihre kleinen Freunde ihr geschenkt hatten. Sie zeigte großes Verständnis für deren besondere Frische und Grazie und zeigte mir, besser als jeder Kunsthistoriker es hätte tun können, deren besonderen Rhythmus auf. Über sich selbst jedoch erzählte sie äußerst wenig. Für Geld hatte sie nichts übrig; was sie verdiente, gab sie weg oder kaufte Spielzeug dafür, für sich und die Kinder. Sie lebte fast ausschließlich von Obst und ganz primitiver Rohkost. Sie erzählte, wie sie im Winter auf Skiern durch die österreichischen Alpen wandert, von den Tiroler Dörfern und Bauernhäusern, die so hoch liegen, dass die Kinder für halbe Jahre ins Tal geschickt werden, um in die Schule zu gehen. Diese entlegenen Orte, in denen noch alte Gebräuche herrschen, wo man noch seltsame Geräte, auch Hausgeräte, verwendet, wo heute noch Volksweisen gedichtet und Märchen erzählt werden, diese Orte, weitab von allen Touristenstraßen, kannte sie. Diese primitiven Menschen verstand sie, und diese verstanden sie und liebten sie und warteten jeden Winter sehnsüchtig auf sie. Sie wanderte immer ganz allein. Mancherorts zeichnete sie die Bauern, als Bezahlung für Unterkunft und Essen, doch fast überall wurde sie erwartet und wie eine alte Freundin geliebt._Sie war so völlig unaffektiert, so ohne Bewusstsein ihres eigenen Talents. Eine glückliche und reiche Persönlichkeit – ein Kind und eine Prophetin zur gleichen Zeit. Ohne Kenntnis von Stilarten und Kunstgeschichte, Regeln und Richtungen und Experimenten, ein lebender Ausdruck für das Wertvollste, das Modernste der Zeit. Das Einfache, das Simple, das Ungekünstelte, das Reine und Kindliche.
Zum Abschied schenkte ich ihr eine kleine Harmonika, über die sie sich unsagbar freute; ich habe später gehört, dass sie sie schon am Tage darauf auseinander nahm um zu sehen, was darin war.